Wolfgang Ohler
"Kein Genre ist vor mir sicher!"
 
 
 

Aus "Mein irisches lyrisches Tagebuch":

 

Die Ballade von der Bank vor O'Sullivan's Pub

 

Sie steht vor O'Sullivan's Pub,

solide in nachtblauem Lack,

und willst du hinein, steht sie rechter Hand,

doch gehst du nach Hause gleich links an der Wand,

die Bank vor O'Sullivan's Pub.

 

Du denkst: ein gemütlicher Ort,

trinkst dort wie ein irischer Lord,

die volle Pint Murphy fest in der Hand,

der bittere Schaum läuft über den Rand

und tropft auf O'Sullivan's Bank.

 

Nach links führt die Straße bergab,

der Ort heißt Béal àn de Chab.

Nach rechts geht's hinüber zum Hafen von Schull,

dein Glas Irish Stout ist noch immer halbvull,

du sitzt auf O'Sullivan's Bank.

 

Trinkt drinnen mal einer zuviel,

dann spielt man ein anderes Spiel:

Man schleppt ihn hinaus in die sternkühle Nacht,

besorgt um sein Wohl setzt man ihn ganz sacht

auf die Bank vor O'Sullivan's Pub.

 

Die Bank gibt ihm gleich neue Kraft,

so dass er es bald wieder schafft:

kehrt aufrechten Ganges und munter zurück,

bestellt sich ein Bier und findet sein Glück

dank der Bank vor O'Sullivan's Pub.

 

Und fragst du mal ganz nebenbei

Pat O'Brian so nachts um halb zwei

nach seinem Befinden, so meint er voll Stolz:

schon dreimal half ihm heute nacht dieses Holz

der Bank vor O'Sullivan's Pub!

 

Aus "Doppelkopf":  

"Du wirst mich gleich verstehen, Wolf. Nur noch einen Augenblick Geduld. Es gibt einen Nutzen, ja, sogar einen doppelten, den wir aus jedem Krimi ziehen können, ganz gleich wie trivial er sein mag, denn er lehrt uns zwei Dinge. Zum ersten den Respekt vor dem Zufall. Fast immer ist er es, der Zufall, der uns bei der Lösung auf die Sprünge hilft. Und ganz zu Unrecht belächeln wir dies als Trick oder Hilflosigkeit des Autors, der dann, wenn er mit seiner Geschichte in der Sachgasse landet, zum Deus ex machina greift. Was heißt das überhaupt: Zufall? Wieso gehen wir davon aus, dass zunächst alles, was in der Welt geschieht, ungeordnet und chaotisch ist? Und wenn wir es chaotisch nennen, ist dies nicht nur unsere Verlegenheit, die komplizierte Ordnung nicht mehr zu verstehen, weil der rechte Winkel nicht passt? Ist der Umstand, dass überhaupt etwas passiert, nicht bereits Beweis für eine Ordnung? Ist es nicht mehr als ein Zufall, dass ich eine von Millionen Möglichkeiten als denkbares und deshalb passendes Puzzleteil in meiner Geschichte unterbringen kann?"

Ungeduldig trommelte Wolf mit den Fingern auf der Tischplatter. Also gut, er sei bereit, Hänschen diesen Gefallen zu tun und dem Zufall seine Referenz zu erweisen.

"Aber du sagst, dass es zwei Dinge seien, die uns die Kriminalgeschichte lehren soll."

"Richtig. die zweite Lektion heißt: Vertraue nicht zu rasch dem Offensichtlichen, denn es ist nur Schein, der dich in die Irre führt. Glaube nicht an das Wahrscheinliche, es soll dich nur täuschen. Verlass dich nicht auf deine Erwartungen, sondern sei bereit für das Unerwartete, denn am Ende der Geschichte ist das Unglaubliche die Wahrheit! Der Krimi ist eine Allegorie unseres Lebens, Wolf! Alles ist zunächst Schein, auf nichts ist Verlass, die Wahrheit bleibt uns verborgen, und du bist ein Narr, wenn du für bare Münze nimmst, was man dir im ersten Kapitel vorgaukelt. Schlau bist du erst am Ende deines Lebens, und selbst da bleibt ein Rest Unsicherheit: Ist es wirklich so gewesen? Steht auf der letzten Seite des Buches tatsächlich die Lösung?"

 

 Aus "Hin geht die Zeit, her kommt der Tod":

So kam er zur Ruhe. Die Starre löste sich aus den Gesichtszügen, und es geschah das Unergründliche, das in solchen Augenblicken geschieht: Das Gesicht glitt hinüber in ein anderes Gesicht, das klein und armselig wurde, sich dann glättete und beruhigte, keinen Schmerz mehr zeigte, und sich auf die Reise durch die Zeit begab. Ein leises Seufzen, fast gelöst und friedlich, wie von einem Kind, und es war vorbei. Im letzten Moment drehte sich das Gesicht still zur Seite, als sei es erschöpft und wolle sich von allem zurückziehen.

In dieser Minute war ich nur noch bei dem sterbenden Freund, dem ich beistehen wollte und nicht helfen konnte. Alles andere um mich her ausgelöscht, wir beide in einem festen Kreis, der uns einschloss. Seine Hand löste sich von meinem Handgelenk und sank zurück. Kein Geräusch klang zu uns herüber, nicht das Getöse der Orgel, kein Ruf. Eine Ewigkeit waren wir so zusammen. Dann hörte ich doch etwas: meine eigene Stimme, die vor Fassungslosigkeit flüsterte: Ich bin bei dir, mein Freund, und du bist ganz nahe beim Kreuz; denk daran, was ich dir gesagt habe, es wird herrlich sein. Denk an meine Geschichte!Aus "Die Rheinpfalz" vom 27. November 2017:

Do bische platt: Die Scheindoode misse fer de Islam de Kopp hinhalle.

Weil geschdern Doodesunndaa gewest is, hammer owends in unsrer Kneip beim Feierowendschöppche an all die gedenkt, die sich desjohr vun uns fer immer veabschied hann, an de Alfons, de Guschdl un's Lina. Es war uns richdisch weh um's Herz, un sogaa de Paul hat sich sei dumme Sprich vekniff un vesucht, ernschd se gucke. De Bruno, unser Wert, hat mi'm Wischlumbe sei Thek poliert un dief geseifzt: Jo, mir komme all mol dran, de Herrgott vegesst nimmande. Ich hab'm beigepflicht: Schunn de Karl Valentin hat gesaat: Jeder Mensch muss sterwe, vielleicht sogaa ich.

Er dääd sich vebrenne losse, hat de Paul gemennt, des wär e sauberie Sach un mer dääd de Sarsch spare. Nee, hat de Bruno gebrummelt, so e Urn wär ihm se eng, un außerdem hätt er's in seim Leewe nie eilisch gehat, do wollt er dann ah im Dood net huddele. Ich gönn mer e Sarsch, lee mich enin un loss mer Zeit, hat er gemennt. De Paul hat gans triebsinnisch in sei Bier geguckt: Wann enner vun uns zwee sterbt, saat als mei Mona, dääd es senächschd e Weltrees mache un dann widder zu seine Leit uff's Dorf ziehe, dort wär's guud uffgehob. Dabber, Bruno, zapp mer noch enns!

Die Muslime hann do e echdes Problem, is mer ingefall, die misse noh ihrm Glaube in Diecher begrab werre un net im Sarsch. Bei uns in Deitschland herrscht awwer die Sarschpflicht; die will mer jetzat dabber weje de Integration vum Islam lockere. De Paul hat de Kopp geschiddelt: Ei, do hat doch awwer bestimmt die Schreinerinnung was degeje. Jo schunn, hab ich gesaat, sie wolle desweje e Kompromiss mache: Die doode Moslems misse im Sarsch bis zum Grab gedraa werre un komme dann dort ins Leicheduch un unner die Erd. Un was mache se mi'm Sarsch, wollt de Bruno wisse? Denne kenne se beim nächschde Mol halt noch mol nemme, hat de Paul vorgeschlaa. In de Zwischezeit kammer des Möbel jo ins Wohnzimmer stelle, e bundes Deckche driwwer un schunn hasche e scheener Wohnzimmerdisch.

Es gebt iwwrischens noch e Problem mit de Integration vun de Moslems, hab ich gesaat: Die misse nohm Koran ihr Vestorbene innerhalb vun em Daa beerdische, sunsch komme se net in ihr Paradies. Noh unserm Bestattungsgesetz derf de Sarsch awwer friehschdens noh 48 Stunne unner de Boddem. Dodemit will mer vehinnere, dass e Scheindooder aus Vesehe beerdischt werd. Vun dere Vorschrift will mer jetzat absiehn, demit die Moslems dabber noh ihrm Koran begrab werre kenne.

Kannsche mol siehn, hat do de Paul gescholl, die Scheindoode misse am End fer de Islam de Kopp hinhalle, die arme Kerle; nee, do geh ich lieber uff Nummer sicher un loss mich vebrenne.

 

 Aus "Geschichten aus dem blauen Hut":

"Die pfälzische Wahrheit über meine saarländische Großmutter":

Meine saarländische Großmutter wusste nur zu gut, dass sich alle Wahrheit aus einer perspektivischen Sicht des Betrachtens ergibt, dass die Objektivität seit Heisenbergs Forschung ein überkandidelter Firlefanz ist, wie sie es einmal im Club of Rome ausgedrückt hat. Das Streben nach reiner Wahrheit sei das Bemühen, eine Vorstellung des Absoluten zu gewinnen, also sich ein Bild Gottes zu erschaffen, hat sie bei anderer Gelegenheit gesagt - ich glaube, es war in einem Vortrag vor dem Vatikanischen Konzil -, und diese Hybris verstoße gegen den Dekalog. Aus solcher Ehrfurcht vor der verbotenen Frucht der wahren Erkenntnis entwickelte sich eine ethische Bescheidenheit, die es ihr nicht erlaubte, mit der Wahrheit umzugehen wie mit ihrem geliebten Melissengeist: jederzeit und ohne Bedenken einen guten Schluck zu nehmen, um damit das Bauchgrimmen, die Migräne oder ihre entzündeten Hühneraugen zu heilen. Nein, sie war für sie ein kostbares, heiliges Gut, diese Wahrheit; und so, wie sich besagter Heisenberg ihr mit dem Mikroskop näherte - der Wahrheit, nicht der Großmutter -, so rückte sie ihr - die Großmutter der Wahrheit - mit einem anderen Instrumentarium zu Leibe: mit ihren Geschichten. Durch die Geschichte, die sie erzählt hat, betrachtete sie die Wirklichkeit von allen Seiten, ohne ihr zu nahe zu rücken, bespiegelte sie wie ein unter dem Deckgläschen gefangenes Pantoffeltierchen, drehte an Rädchen und Schräubchen, um die Einstellung des Okulars zu verändern, bis ihr das, was sie sah und wie sie es sah, behagte und einen Sinn ergab...

Ich folgte Großmutter in die Küche und blinzelte ins helle Licht. Am Tisch saßen Marilyn Monroe, James Dean und ein älterer Herr im Smoking, mit Pomade im Haar und exaktem Mittelscheitel. Sie nahmen keine Notiz von mir, denn sie waren in ihr Abendessen vertieft: Leberknödel mit Sauerkraut und Kartoffelpüree, eine von Großmutters Spezialitäten.

"Setz dich zu uns, und iss einen Teller mit, Junge", lud mich Friedel ein. Ich war so verblüfft, dass ich wortlos neben James Dean Platz nahm und mir den Teller füllen ließ. Marilyn warf mir einen koketten Blick zu und lächelte verführerisch.

"Lassen Sie es sich schmecken, junger Mann", wandte sich der Vornehme im Smoking an mich. "Ihre Großmutter hat uns von Ihnen erzählt. Sie hält große Stücke auf Sie."

Endlich hatte ich mich gefangen. Ich legte Messer und Gabel zur Seite und schaute Friedel vorwurfsvoll an. "Bist du mir nicht eine Erklärung schuldig?" "Es ist so", antwortete sie, "die drei waren von der langen Reise hungrig, da musste ich Ihnen doch etwas vorsetzen. Und die Knödel waren von heute Mittag übrig, verstehst du". Marilyn, James und der Smoking nickten beifällig mit vollem Mund.

Ich verstand natürlich gar nichts. Was in aller Welt hatten zwei Schauspieler, die seit langem tot waren, und ein Mann, der in seinem dunklen Anzug wie ein Leichenbestatter aussah, in Großmutters Küche zu suchen? Nun spann mich doch nicht länger auf die Folter, Großmutter! Was hast du da wieder angestellt!

 

 Aus "Das Recht und die schönen Künste. Wahrheit als Geschichte": 

Der Richter hat die Aufgabe, aus den recherchierten Spuren der Wirklichkeit eine Wahrheit zu erschaffen, die er seiner Rechtsprechung zu Grunde legt. Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, sagt Musil, so gibt es auch einen Möglichkeitssinn. Der erkennende Richter stellt diesen Satz auf den Kopf und sinnt von den tatsächlichen Möglichkeiten, die ihm die Beweisaufnahme anbietet, auf die Wirklichkeit. Diese Fähigkeit mag man mit der Leistung des sogenannten Judizes vergleichen, einem besonderen Vermögen des erfahrenen und begabten Juristen, dem man in der Wissenschaft mit Vorbehalt begegnet, das jedoch andererseits als Element der Rechtsfindung anerkannt ist: Eine Meinung gesteht dem "sensus juridicus" sogar die Fähigkeit zu, die allein richtige Entscheidung aus der Vielzahl der möglichen, vertretbaren in einem abgekürzten, teils intuitiven, teils intellektuell gesteuerten Verfahren zu erfassen. Ähnlich arbeitet der Wirklichkeitssinn des Richters bei der freien Beweiswürdigung. So wie das Judiz das Spannungsverhältnis zwischen Sachgerechtigkeit und Gleichgerechtigkeit auflöst, so schließt der Wirklichkeitssinn den Kompromiss zwischen der naturwissenschaftlich-kausalen Logik des Tatgeschehens und der besonderen "Logik der Situation"...Der Wirklichkeitssinn des Richters deutet und erklärt das Ergebnis der Beweisaufnahme; er übersetzt die Spuren in Wörter und verdichtet die Wörter zur Sprache der Wahrheit.

Die auf solche Weise geschaffene Wirklichkeit erhält im Urteil eine Qualität, die über die einer Zusammenfassung der einzelnen Beweisergebnisse hinausgeht. Die Wahrheit des Urteils durchbricht das System des Strafverfahrens. Das Urteil entlässt die Wahrheit aus der Enge des Prozesses in die Welt. Dort existiert sie frei von allen Prozesszwängen als GESCHICHTE.

 

Aus "Die Träumer von Struthof":

Es waren die Nachmittage, die Mangold zusetzten, die träge Zeit auf den Feldern. Er ertappte sich dabei, wie er zwischen den Pflanzen saß und erst merkte, dass ein Regenschauer eingesetzt hatte, als er bis auf die Haut durchnässt war. Er blieb auf seinem Platz, ebenso wie die Drogenernter, eine bleierne Lethargie hielt ihn fest, der Regen hörte irgendwann auf, die Kleider trockneten in der Sonne. Hinterm Zaun scheppernde Musik aus dem Lautsprecher.

Und dann spürte er zum ersten Mal dieses seltsame Gefühl in seiner Brust, ein leichtes Vibrieren, keinen Schmerz, eher das Gegenteil von Schmerz,. Nach einiger Zeit kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Was er da fühlte, war das etwa Glück? Nein, sagte er sich, das Glück, das ihm bisher begegnet war, ihn in kurzen Augenblicken in einem heftigen Anfall überwältigt hatte, war das nicht, sondern eher wie ein Schatten des Glücks. Er schloss wieder die Augen und ließ es geschehen. In der Ferne des Tals schlug die Glocke...

Eines Morgens blickte Mangold im Spiegel ein lächelndes, mattes Gesicht entgegen, und er erschrak. Entschlossen stemmte er sich gegen die heitere Lethargie des Lagers, die ihn lähmte und hinab sog in den Strudel aus Stille, Grauen und falschem Glück. Am Abend meldete er sich zum ersten Mal für den Wochenendausflug nach Kolmar.